Derailing – endlich gibts ein Wort für gezielte Störung von Diskussionen
Dank eines aktuellen Artikels des wirklich informativen Magazins t3n bin ich heute ein Stückchen schlauer als gestern und auch erleichtert. Der Artikel „Derailing im Netz“ beschreibt genau das, was mich seit längerer Zeit ärgert und einem das Posten und Diskutieren in den sozialen Netzwerken zunehmend verleidet. Es geht darum, dass man mit Kommentaren ganz leicht vom Inhalt eines Artikels, eines Posts oder eines anderen Kommentares ablenken kann, die Diskussion entgleisen und die Kernaussage unter den Tisch fallen lassen.
Genau dies geschieht viel zu oft und immer mehr im Web: Diskussionen werden manipulativ in eine andere Richtung gedrängt. Wichtige Aussagen, Wahrheiten, Fakten und Informationen geraten völlig in den Hintergrund, während latent frustrierte, aggressive Stänkerer oder Trolls einen Spaß daran haben mit unsachlichen Kommentaren den Inhalt völlig zu verdrehen. Meist sind die Kommentare emotional gefärbt, angreifend, provokant. Weitere Kommentatoren können nicht anders, als darauf einzugehen. Wer anderer Meinung ist, stellt seine Sicht dar, wer gleicher Meinung ist, bekräftigt. Und schon entsteht der internet-typische Hick-Hack, der von einer inhaltsvollen, sachlichen Diskussion himmelweit entfernt ist. Nicht selten beleidigen sich die Kommentatoren dann gegenseitig, es wird persönlich, obwohl man sich gar nicht kennt. Man sucht bei dem anderen Angriffspunkte. Niemand interessiert sich mehr für die Inhalte eines Blog-Artikels oder andere Aussagen, alles kreist dann nur noch um einen Unterpunkt, der vielleicht noch nicht mal ansatzweise mit der Intention des Artikels zu tun hatte.
[gard]
Das Lesen solcher Diskussionen amüsiert viele und wird zum lustigen Zeitvertreib. Das mag hingehen, wenn es sich um Fanpages von Promis oder Möchtegernpromis handelt, denn hier geht es meist nur um Eitelkeiten und Neid auf die Promis, aber so richtig unlustig wird es, wenn wichtige Inhalte so verdreht werden oder wenn die Diskussionen einfach gar nichts mehr oder sehr entfernt mit dem ursprünglichen Post zu tun haben.
Leider, leider, leider sind sachliche Diskussionen im Internet eine Seltenheit. Man bekommt sie eigentlich nur dann hin, wenn man einen guten Moderator hat. Aber dieser darf nicht parteiisch sein. Der Seitenbetreiber ist also zu parteiisch – löscht er sinnfreie und pöbelnde Kommentare wirft man ihm Zensur vor. Lässt er alles stehen, führt die Diskussion in die unterste Schublade des Niveaus und der Inhalt eines ganzen Artikel kann damit abgewertet werden. So leicht ist es im Web, anderen auf die man neidisch oder sauer ist, zu schaden.
Lasst uns miteinander reden – ach nein, doch lieber gegeneinander
Leider hat heute kaum jemand noch Interesse sich im Web mit anderen objektiv, sachlich und selbstkritisch zu unterhalten. Rechthaberei ist an der Tagesordnung. Die eigenen Ansichten zu sämtlichen Themen wollen veröffentlicht werden. Meinungsfreiheit hat oberste Priorität. Dabei spielt es dann auch gar keine Rolle mehr, dass man sich gegenseitig gar nicht mehr ‚zuhört’… Man überschreit im übertragenen Sinne durch verbale Entgleisungen die treffenden Aussagen anderer. Gewonnen hat, wer sich besonders derb und pöbelnd ausdrücken kann. Gewonnen hat, wer aggressiver drauf ist. Warum? Weil er die anderen am ehesten zum Schweigen bringt und jede sinnvolle Diskussionen im Keim erstickt. Niemand, der auf niveauvoller Ebene diskutieren will und sich austauschen, hat Lust sich mit pöbelnden Affen, die mit Beleidigungen und Derbheiten um sich schmeißen, abzugeben. Also sagt man gar nichts mehr und verlässt die Diskussion.
Die Kernaussage des Posts, der anderen Kommentare oder des Artikels interessieren die Leser auch nicht mehr groß. Der Disput war viel interessanter. Wer schlägt wen? Wer bietet schärfere Waffen, Worte? Das ist das, was übrig bleibt.
Diese Entwicklung ist nicht nur unschön, sondern sie bringt niemanden weiter. Außer den Pöbler selbst. Er hat sich mal wieder erfolgreich den Frust von der Seele geladen, wie so oft. Er verteilt eben gerne seinen Mist an verschiedenen Stellen und hinterlässt überall sein Häufchen. Den Schrecken und das Entsetzen, den die verbalen Auswürfe bei den anderen auslösen, bekommt er nicht mit. Er wertet Schweigen als Zustimmung.
Machen wir es den Pöblern nicht so einfach
Da dieses zerstörerische Verhalten immer mehr um sich greift und wir weit entfernt sind von einer gesunden Diskussionskultur im Web, kann uns dieser Begriff „Derailing“ vielleicht endlich mal von der Schockstarre erlösen. Erste Gegenmaßnahmen werden schon ergriffen. Seitenbetreiber gehen dazu über, solche Kommentare weiß zu färben, damit man sie erst beim Darüberfahren mit der Maus lesen kann und so gleich kapiert, dass hier von der Kernaussage eines Posts nur abgelenkt werden soll. Sicher gibt es noch weitere Möglichkeiten. Im Moment ist es einfach wichtig, dass sich möglichst viele Internet-User mit diesem Begriff vertraut machen und dafür sensibilisiert werden, dass viele Kommentare nur dazu da sind, die Poster zu verunglimpfen und den Fokus auf andere Themen zu lenken.